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Die
Zeit von der Mitte des 19.Jahrhunderts bis zum Beginn des Ersten
Weltkriegs wird allgemein mit vielen Attentaten von Anarchisten auf
die Herrschenden verbunden. Der Anschlag auf den österreichischen
Thronfolger in Sarajewo hatte eine lange Vorgeschichte. Schwarz
gekleidete Bombenwerfer scheinen zum Alltag gehört zu haben. Da
fragt man sich, ob es denn Attentate auf Kaiser Wilhelm II. gegeben
hat, man liest praktisch nichts davon? Doch, es gab welche, auch
wenn die Vorfälle eigentlich kaum so zu benennen sind… |
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Das „Radieschen“-Attentat |
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Im
November 1893 erschienen kurze Meldungen, daß ein in
Orleans/Frankreich aufgegebenes Paket an den Kaiser bei der
Postkontrolle aufgefallen war. Die Zollbeschriftung lautete
„Radieschensamen-Probe“, aber es beinhaltete eine Vorrichtung, die
beim Öffnen zu einer Explosion von Jagdwaffenpulver führen sollte.
Die Konstruktion war allerdings so dilettantisch ausgeführt, daß sie
bereits durch die Bewegungen beim Versand funktionslos geworden war.
Alle
folgenden Ermittlungen auf die Spur des anonymen Versenders zu
kommen, der offenbar tatsächlich geglaubt hatte, daß ein Paket an
den Kaiser verschlossen und unkontrolliert auf dessen Schreibtisch
gelandet wäre, bleiben erfolglos. |
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Der Beilwurf von
Breslau |
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Ebenfalls
im November, am 16.11.1900, besuchte Kaiser Wilhelm II. die
schlesische Hauptstadt Breslau. In der offenen Kutsche saß er neben
dem Erbprinz Bernhard von Sachsen-Meiningen, dem Ehemann von
Charlotte, der Schwester des Kaisers. Die Straßen waren gefüllt von
den jubelnden Bürgern und in einem Fenster hatte der Kaufmann Eduard
Spindler seinen Photoapparat aufgebaut, um Bilder der Parade zu
machen.
Spindler
bemerkte, daß es auf einmal einen Aufruhr hinter der bereits
vorbeigefahrenen Kutsche gab und sich Massen auf eine schwarz
gekleidete Frau stürzten. Die Polizei hatte Mühe diese vor der
aufgebrachten Volksmenge zu schützen und abzuführen. Der Photograf
am Fenster im oberen Stockwerk hatte es gar nicht mitbekommen, aber
erfuhr später, daß eine Frau namens Selma Schnapka auf die Kutsche
zugerannt war und ein Beil auf den Kaiser werfen wollte. Der Zufall
wollte es, daß auf ihrer Seite der Erbprinz saß und bis sie um die
Kutsche herum war, war diese schon so weit vorgefahren, daß sie das
Beil nur noch hinterher werfen konnte, wo es gegen ein Hinterrad
schlug. Die Insassen hatten es gar nicht mitbekommen, nur ein
begleitender Reiter konnte später aussagen.
Bei
den folgenden Ermittlungen stellte sich heraus, daß die Beilwerferin
seit Jahren unter Psychosen litt und im Verfolgungswahn haufenweise
Personen im Verdacht hatte, ihr das Leben schwer zu machen. An
diesem Tag hatte sie wieder mal einen Gerichtstermin und nahm mehr
oder weniger ungeplant und zufällig den Einzug des Kaisers zum
Anlass, ihr Beil im Korb gegen den Monarchen zu werfen, der ihrer
Meinung nach dafür verantwortlich war, daß ihr Mietvertrag gekündigt
worden war…
In
mehreren psychiatrischen Gutachten wurde die Unzurechnungsfähigkeit
der 41jährigen Hausiererin festgestellt. Selma Schnapka wurde nach
Zeitungsmeldung vom 17.12.1900 „der städtischen Irrenanstalt in der
Einbaumstraße in Breslau zugeführt“.
Zurück
zu Eduard Spendler: beim Entwickeln seiner Fotoplatten entdeckte er,
daß er zufällig das Attentat fotografiert hatte. Auf einem Bild war
doch tatsächlich links unten die Frau zu sehen, wie sie ihr
Hackebeil warf. Der Verkauf an die Zeitungen war sicher lohnend und
es ist eines der ganz wenigen Fotodokumente eines Attentates der
Zeit - heute bei Wikipedia zu sehen. |
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Illustrirte Zeitung Nr. 2995 von 1900 |
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Der Vorfall in
Bremen |
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Am
6.März 1901 besuchte der Kaiser Bremen – wieder in der offenen
Kutsche an jubelnden Einwohner vorbei. Am späten Abend gegen 22.30
Uhr, nach einem Empfang im Ratskeller, ging es wieder zurück zur
Bahnstation. Auf dem Weg durch die wieder (oder immer noch)
gefüllten Straßen spürte er plötzlich einen leichten Druck unter dem
Auge und meinte ein geworfenes Blumengebinde hätte ihn versehentlich
getroffen (erst viel später erinnerte er sich an ein metallisches
Geräusch zu dieser Zeit). Am Bahnhof machte ihn dann seine Umgebung
auf eine Wangenverletzung und Blut auf dem Mantel aufmerksam. Was
war da geschehen?
Das
Geschehen ist so kurios wie traurig. Der 19jährige Dietrich Weiland
hatte bereits bei der Einfahrt des Kaisers jubelnd am Straßenrand
gestanden und sich anschließend stundenlang ziellos auf den Straßen
aufgehalten. Dort fand er eine Verbindungslasche aus Metall (21 cm
lang, 5 cm breit), die ein Handwerker vorher dort verloren hatte.
Weil die vielleicht zu gebrauchen war, nahm er sie mit. Weiland war
Epileptiker und litt zusätzlich an Wahnvorstellungen und
Angstpsychosen, was immer wieder dazu führte, daß er keine Arbeit
bekam oder diese recht schnell wieder verlor.
Als
der Kaiser dann im Dunkeln wieder durch die Straßen fuhr, hatte er
die Hände bereits zum Winken oben. Plötzlich hörte er eine Stimme
wie aus seiner Matrosenzeit „Wirf das Loth!“. Verwirrt warf er aber
kein Loth über die Bordwand ins Meer, sondern die Eisenlasche in der
Hand in Richtung der kaiserlichen Kutsche und traf Wilhelm II. an
der Wange.
Sofort
danach brach Weiland in einem epileptischen Anfall auf der Straße
zusammen, die Kutsche war schon vorbei. Begleitende Reiter
befürchteten, es wäre jemand angefahren worden und man kümmerte sich
um den zuckenden, nicht ansprechbaren Bürger am Trottoir. Wäre das
nicht geschehen – man hätte den Vorgang im Dunkel gar nicht
mitbekommen.
Das
alles wurde erst nach langen Ermittlungen und Befragungen
rekonstruiert. Die vielen Puzzleteile fügten sich am Ende zu einem
tragischen Unfall zusammen. Weilands anschließendes Leben war
bitter. Nach einer Einlieferung in eine Anstalt für Geisteskranke
wurde er immer wieder hin- und hergeschoben, mehrere
Entlassungsanträge teils aufgrund medizinischer und teils wohl auch
aus politischen Gründen abgelehnt. Er starb am 18.April 1939 (!), 38
Jahre nach dem Unglück, in der Bremischen Heil- und Pflegeanstalt.
Dass
jede Nachricht über einen verletzten Monarchen zu dieser Zeit aber
eine wichtige und verkaufsfördernde Nachricht war, zeigt uns die
ganzseitige, dramatisch verfälschte Illustration im französischen
„Le Petit Journal“ vom 24.März 1901. Obwohl zu diesem Zeitpunkt die
wesentlichen Umstände des Vorfalls schon bekannt gewesen sein
dürften, titelte man mit einem Attentat.
Kein
Einzelfall – bereits am 25.Juli 1897 war des Kaisers Blut dem Blatt
eine ganzseitige Illustration wert: „Wilhelm II an Bord seiner Yacht
verletzt!“
Was war da passiert? Die Masten der SMY Hohenzollern waren bei
Motorenfahrt zum Schutz vor Verrußung mit Tuchabdeckungen bedeckt,
diese wurden von Tauwerk, sogenannten „Bändseln“, gehalten. Beim
Wechseln der Abdeckungen am 11.Juli 1897 fiel eines dieser Bändsel
herab und verletzte den Kaiser leicht im Bereich des Auges. Die
Wundheilung verlief schnell und folgenlos. |
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Literatur |
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„Fürst, sind Sie
unverletzt?“ – Attentate im Kaiserreich 1871-1914
Marcus Mühlnickel, Schöningh-Verlag, Paderborn 2014.
„Das Attentat, das keines war“ WK-Geschichte (Bremen-History)
https://wkgeschichte.weser-kurier.de/das-attentat-das-keines-war/ |
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